Naturform und bildnerische Prozesse by Robert Felfe

Naturform und bildnerische Prozesse by Robert Felfe

Autor:Robert Felfe [Felfe, Robert]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2015-04-08T00:00:00+00:00


a. Vom nützlichen Vergnügen der Täuschung

Als 1646 in Paris der Thaumaturgus opticus von François Niceron erschien, war der Autor im Alter von nur 33 Jahren bereits verstorben.596 Ein eindrucksvolles Porträt von ihm erschien als Autorenbildnis dieser Ausgabe; die Inschrift unter dem Bildnis gibt sich explizit als Epitaph für den kurz zuvor Verstorbenen (Abb. 101).597 Das Bild selbst gibt dem Porträtierten eine doppeldeutige Erscheinung. Einerseits hat es Momente, die darauf hinzudeuten scheinen, dass die gezeigte Physiognomie keinem Lebenden gehört. Der Blick aus den großen, weit geöffneten Augen ist in eine undefinierbare Ferne gerichtet. Reglos und hell erleuchtet, hebt sich das Gesicht von der dunklen Mönchskutte ebenso ab wie von einer schweren Draperie, die den Dargestellten hinterfängt und zugleich wie ein Baldachin würdevoll überdacht. Der Hintergrund liefert weitere Einzelheiten, die als Hinweise auf den Tod des Dargestellten bzw. als Indizien für dessen Entrückung verstanden werden können. Als Angehöriger der Minimes erscheint Niceron vor der Fassade der Kirche Trinité-des-Monts, der Konventskirche des französischen Ordens in Rom. Zweimal hatte er sich hier für längere Zeit aufgehalten und das Bildnis scheint sowohl an diese biografischen Stationen eines irdischen Lebens zu erinnern als auch eine spirituelle Bindung des Verstorbenen an die ewige Stadt und ihre sakrale Topografie anzuzeigen.

Mögen die genannten Details den Autor auch dem irdischen Dasein entheben, so erlangt er gleichwohl und im Gegenzug dazu eine beharrliche Präsenz im Bild. Der Blick suggeriert eine Aufmerksamkeit, wie sie eher konkrete Beobachtung und Reflexion auszeichnet als reine Kontemplation und jenseitige Verzückung. Ähnliches gilt für die Hände. Ihre Ruhe ist nicht von Dauer, noch immer rahmen bzw. halten sie Zeichenbrett und Zirkel. Hinzu kommt die Lichtregie. Bei allen Momenten einer sakralen Stimmungslage erscheint der Porträtierte nicht nur im Abglanz des die Szenerie durchflutenden Lichts, sondern das Bild suggeriert er wäre mitsamt seiner Kunst von diesem Licht erfüllt und durchdrungen. 598 Die Hand mit dem Zirkel lässt einen Schatten auf das Zeichenblatt werfen und noch die Zeichnung selbst ist so platziert worden, dass der schraffierte Aufriss des stereometrischen Körpers am linken Rand aussieht, als wäre er tatsächlich der Schatten dieses Körpers. Die Bildgebung scheint sich somit fortzusetzen, als wäre die Zeichnung, die der porträtierte Niceron präsentiert, auf wunderbare Weise im Licht der Szenerie entstanden. Der Vorgang der Konstruktionen wird durch den Tod des Autors nicht wirklich unterbrochen und diese Kontinuität meint vermutlich etwas anderes als eine bloße Rhetorik der Unsterblichkeit des Autors durch sein Werk. Vielmehr lässt sich fragen, inwiefern jene optischen Wunderwerke, von denen das Buch handelt, als eine Kunst konzipiert und gelehrt wurden, die die transzendenten Vermögen visueller Wahrnehmung in einer zeitlich-historischen Dimension zu entfalten vermochten.



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